Marion Döbert, Vorstand Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung, Fachjournalistin und Fachbereichsleiterin Gesundheit und Alphabetisierung VHS Bielefeld kommentiert die Zwischenbilanz zur AlphaDekade.

Es ist ein wichtiger Schritt, im Rahmen eines zehnjährigen Arbeitsvorhabens innezuhalten und den Erfolg, aber auch die noch offenen Aufgaben zu überprüfen. Die Partner der Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung – 2016 ausgerufen vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) – haben dazu nun ein Papier zu den qualitativen Entwicklungen in fünf Handlungsfeldern vorgelegt: Öffentlichkeitsarbeit, Forschung, Lernangebote, Professionalisierung und Strukturen.

Die Ergebnisse können sich sehen lassen, aber es gibt noch viel zu tun, und es gibt Unklarheiten und offene Fragen.

Handlungsfeld Öffentlichkeitsarbeit

Öffentlichkeitsarbeit erzeugt ein öffentliches und individuelles Bewusstsein in der Wahrnehmung des Themenfeldes unzureichender Schriftsprachkompetenz bei deutschsprachigen Erwachsenen. Das ist ein Erfolg der Aktivitäten in der Nationalen Dekade (wie auch zuvor in der Weltalphabetisierungsdekade, 2003-2013). Öffentlichkeitsarbeit weist auch auf die unterstützenden Institutionen und die beratenden Ansprechpartner hin. Das ist wichtig, denn so wird das Thema enttabuisiert und der Weg in potenzielle Lern- und Unterstützungsangebote aufgezeigt.

Offen bleibt aber, ob die Teilnahme an konkreten Lern- und Unterstützungsangeboten durch die Öffentlichkeitsarbeit gesteigert werden konnte. Wenn ja, dann wäre das ein starker Erfolg. Wenn nein, dann sollten Expertisen und Belange aus den Praxisfeldern bei der Entwicklung von Öffentlichkeitsarbeit verstärkt eingeholt werden, und zwar aus Sicht der Kursanbieter, der Kursleitenden und der bereits Lernenden, bzw. der Lernenden-Vertreter. Es müsste näher bestimmt werden können, warum trotz intensiver und beeindruckender Öffentlichkeitsarbeit Bildungsberatende und Kursanbieter ggf. nicht an die Zielgruppe herankommen, was vielerorts immer noch der Fall ist.

Handlungsfeld Forschung

Die gelingende oder auch nicht gelingende Ansprache Betroffener wird in dem vorgelegten Papier als wichtiges Thema der weiteren Forschung angesehen. Dies sollte sogar ein vorrangiges Ziel sein, denn ohne nachhaltige Kurse mit faktisch Teilnehmenden sind andere Vorhaben im Rahmen der Nationalen Dekade nicht realisierbar oder in der Praxis umsetzbar. Wenn es Kursangebote gibt, aber keine oder zu wenig Teilnehmende, dann können „Effekte und Wirkungen von Alphabetisierungs- und Grundbildungsmaßnahmen“ nicht erforscht werden; dann gibt es keine Feldzugänge, und dann bedarf es auch keiner Entwicklung von didaktischen und methodischen Konzepten und Materialien. Das alles steht und fällt mit dem nachhaltigen Zustandekommen von Kursen mit konkreten Lernenden.

Handlungsfeld Lernangebote

In dem vorgelegten Papier werden zahlreiche konkrete Ergebnisse genannt, die zu einer qualitativen Verbesserung von Lernangeboten in Alphabetisierung und Grundbildung geführt haben, von der arbeitsorientierten Grundbildung über das Lernportal www.ich-will-lernen.de bis zu einem „sprachwissenschaftlich fundierten Rahmencurriculum“. Besonders wichtig – und realitätsgerecht – ist aber vor allem die Aussage, dass die Zielgruppen der Lernangebote divers sind und dass diese Diversität der Lerninteressierten „flächendeckende diversifizierte Angebote, Settings, Formen und Zugänge“ braucht. Jugendliche im Übergang von Schule in Arbeit brauchen andere Inhalte, didaktische Ansätze, Lernumgebungen, Materialien etc. als die Älteren und Alten (1) unter den Betroffenen. Jede Form der formalen Standardisierung von Lernangeboten wird dieser Diversität nicht gerecht. Es ist zu begrüßen, dass dies in dem vorgelegten Papier deutlich benannt wird.

Handlungsfeld Professionalisierung

Zahlreiche Sensibilisierungs- und Fortbildungsprogramme für Professionelle in der Alphabetisierung und Grundbildung sind im Rahmen der Dekade entstanden und erprobt worden. Die Qualifizierungskonzepte sollen weiterentwickelt und optimiert werden. Zugleich wird in dem Papier aber auch die Problematik deutlich, die sich aus dem Bestreben nach Professionalisierung einerseits und der Arbeitssituation der Kursleitenden andererseits ergibt: Freiberuflichkeit und unangemessene Honorare stehen in einem krassen Gegensatz zu Standards und hohen Ansprüchen an die Professionalisierung. Vielerorts – vor allem in ländlichen Bereich – sind kaum (noch) Kursleitende zu akquirieren. Deshalb ist es zu begrüßen, dass in dem Papier sehr deutlich formuliert wird: „Die Entlohnung der Lehrkräfte sollte sich der Entlohnung im Integrationskurssystem angleichen“ und die „Angebote sollten möglichst kostenfrei sein“. Bei der Professionalisierungs-Debatte im Rahmen der Dekade sollte aber auch die Diversität der Zielgruppen (s.o.) und die verschiedenen Interessen der Unterrichtenden selbst berücksichtigt werden. Eine zu starke Standardisierung von Professionalisierungskonzepten und die entsprechenden Ansprüche an Professionalität müssen zu den jeweiligen Rahmenbedingungen vor Ort in der Realität passen.

Handlungsfeld Strukturen

Wenn in den vorab benannten Handlungsfeldern in dem Papier häufiger von Standardisierung die Rede ist, werden die Formulierungen im Handlungsfeld Strukturen eher vage, was nicht verwunderlich ist. Die „Strukturen“ zu Alphabetisierung und Grundbildung sind von Bundesland zu Bundesland und selbst von Region zu Region völlig unterschiedlich. So werden im Papier benannt: Grundbildungszentren, Fach- und Koordinierungsstellen, Landesbeiräte, Runde Tische, lokale „Alphabündnisse“. Die Organisations- und Aktionsformen sind größtenteils eben keine Strukturen, sondern projektartig angelegte Vernetzungen mit zeitlich beschränkten Zuständigkeiten und Aktivitäten. Strukturen aber – vor allem über die Dekade hinaus – verlangen eine verbindliche und nachhaltige Förderung, und die gibt es nur dann, wenn Alphabetisierung und Grundbildung fester/ gesetzlicher Bestandteil der Bildungsplanung und Bildungsbudgetierung von Bund und Ländern wird. Nur dann geht es auch nach der Nationalen Dekade weiter, vermutlich auch für das Bündnis der Partner der Dekade selbst.

Nachtrag:

Alle benannten Handlungsfelder verfolgen letztlich das Ziel hoch qualitativer und für alle Zielgruppen zugänglicher Lernangebote. Offen bleibt, wie und von wem die Lernangebote nachhaltig – also nicht in Projektform – finanziert werden.

Die Forderung nach Förderung und Berücksichtigung der Belange von „Selbstorganisationen und Interessensvertretungen von Lernenden“ erscheint unter dem „Handlungsfeld Strukturen“ recht unverbindlich. Es sollte vielmehr selbstverständlich sein, Vertreterinnen und Vetreter von Lernenden in das Bündnis der Partner der Nationalen Dekade aufzunehmen und sie in allen benannten Handlungsfeldern mit ihrer Expertise einzubeziehen.

(1) Die Älteren seien hier besonders erwähnt, da sie aus der leo-Studie herausfallen, aber gerade sie sind ganz erheblich durch fehlende Schriftsprachkenntnisse belastet und sogar gefährdet.

Die diesem Kommentar zugrundeliegende Zwischenbilanz zur AlphaDekade finden Sie hier.

Von: Marion Döbert, Vorstand beim Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V.