Das ALFA-Mobil richtet erfolgreichen Workshop für Lernbotschafterinnen und Lernbotschafter aus
Das ALFA-Mobil hat vom 6. bis 8. Dezember 2019 zu einem mehrtägigen Workshop mit dem Thema „Öffentlichkeitsarbeit und Beratung“ eingeladen. 26 Lernbotschafterinnen und Lernbotschafter, darunter auch Mitglieder aus sieben Selbsthilfegruppen, kamen aus ganz Deutschland angereist. In drei Arbeitsgruppen, aufgeteilt in bereits bestehende Selbsthilfegruppen, kürzlich gegründete oder sich gründende Gruppen und einzelne Lernbotschafterinnen und Lernbotschafter, ging es ein ganzes Wochenende um Öffentlichkeitsarbeit und Beratung. Denn während die einen Selbsthilfegruppen bereits öffentlichkeitswirksame Aktionen durchführen, benötigen neue Gruppen Unterstützung bei den ersten Schritten in die Öffentlichkeitsarbeit. Für alle galt es, sich in der Beratung zu üben. Die Zusammensetzung war dabei sehr bunt: Es trafen Menschen im Alter von 22 bis 66 Jahre aufeinander.
Gleich zu Beginn erklärte Klaus aus Rathenow, warum er Öffentlichkeitsarbeit für so wichtig hält: „Ich möchte vor allem jene Menschen überzeugen, die wegen der in Deutschland geltenden Schulpflicht nicht an diese Problematik glauben. Es ist in Deutschland ein Tabuthema, dass viele Menschen nicht richtig lesen und schreiben gelernt haben. Außerdem möchte ich unsere Zielgruppe motivieren: Ich bin 55 Jahre alt, und ich habe es auch geschafft!“ Damit griff er ein zentrales Thema aller Arbeitsgruppen auf: Die eigene Erfahrung weiterzugeben und mit persönlichen Geschichten und Schlüsselerlebnissen die Öffentlichkeit zu berühren.
Im Austausch berichteten die Teilnehmenden von erfolgreichen Aktionen, wie Auftritte in TV-Sendungen, dem Verlesen von Menschenrechten im Rathaus, das Erlangen des Führerscheins oder das Schreiben eines eigenen Artikels in einer Zeitung. Diese und viele andere Aktionen riefen Bewunderung hervor, wie bei Sascha aus Hannover: „Ich bin schwer beeindruckt, dass die anderen Gruppen auch so tolle Sachen erarbeitet und Aktionen durchgeführt haben. Man werkelt ja immer so vor sich hin und kriegt gar nicht unbedingt mit, was die anderen so machen. Toll!“
Aber auch schwierige Themen fanden Gehör, etwa eine verzerrte Darstellung in der Presse oder nicht eingehaltene Absprachen durch einzelne Journalisten. Einige Teilnehmende wiesen darauf hin, dass öffentliche Aufmerksamkeit nicht viel Wirkung habe, wenn der Kostenbeitrag für einen Lese- und Schreibkurs für die Zielgruppe unerschwinglich sei. Die ABC- Selbsthilfegruppe aus Oldenburg verwies dabei auf ihr „Oldenburger Manifest“, indem sie unter anderem kostenlose Lese- und Schreibkurse fordern.
Auch die Frage, wie sich die Lernenden selbst bezeichnen möchten, wurde kontrovers diskutiert. Während für die einen die Bezeichnung Lernbotschafterin oder Lernbotschafter sehr gut passt, weil sie öffentlich über das Thema aufklären, möchten andere lieber als Lerner-Expertin oder –experte bezeichnet werden. Auch „Betroffene/r“ ist für manche der Anwesenden eine zutreffende Beschreibung. Referent Achim Scholz fasst zusammen: „Wir sind alle Lernende!“.
Das Team des ALFA-Mobils hat im Februar 2019 bei einem Medientraining über diese unterschiedlichen Begriffe demokratisch abstimmen lassen. Teilnehmende waren 25 Lernbotschafterinnen und Lernbotschafter, die eben jenem Begriff die Mehrheit verliehen.
Die drei Tage vergingen für alle Teilnehmenden wie im Flug. Neben den lebendigen Diskussionen wurden Rollenspiele durchgeführt und Plakate erarbeitet, so dass bei einem Rundgang durch die Workshop-Räume ein lebendiges und vielseitiges Bild von dem arbeitsreichen, intensiven Wochenende sichtbar wurde. Neben der Präsentation bisheriger Aktionen war viel Platz für neue Vorhaben und Visionen: Wie könnte eine perfekte Selbsthilfegruppe aussehen? Was wäre eine gelungene Aktion, um Betroffene zum Lernen zu motivieren? Genannt wurden Patenschaften mit berühmten Fußballern oder gar eine Aktion im Berliner Olympia-Stadion. So träumt Gerhard aus Berlin von einer Aktion in der Halbzeitpause eines wichtigen Fußballspiels, bei dem 70.000 Fans angesprochen werden.
Aber auch andere wichtige gesellschaftliche Akteure sollen ins Boot geholt werden. „Herr Polizist, ich bin Analphabet, nehmen Sie mich bitte fest!“, so reagierte Christian aus Neuruppin auf die Idee, unter anderem auch die Polizei für Funktionalen Analphabetismus zu sensibilisieren. Damit sorgte er für große Heiterkeit – der Wunsch dahinter ist aber sehr ernst, denn gerade im Kontakt mit öffentlichen Institutionen und Behörden haben viele Teilnehmende frustrierende Erfahrungen gemacht, wenn es um ihre Lese- und Schreibschwierigkeiten ging. Eine Workshop-Gruppe erarbeitete eine Liste an öffentlichen Akteuren, die sie sich als Mitwissende, Multiplikatoren und Ansprechpartner wünschen.
Nach zweieinhalb arbeitsreichen und schönen Workshop-Tagen war klar: Sowohl die Selbsthilfegruppen als auch die einzelnen Lernbotschafterinnen und Lernbotschafter haben schon viel erreicht und wollen noch viel erreichen. Und dank des lebendigen Austauschs und der kompetenten Beratung durch die Workshop-Leitungen Ines Krahn, Nicole Pöppel und Achim Scholz ließen sich noch während des Wochenendes tolle Erfolge verzeichnen: Sabine aus Lüneburg entschloss sich, in die Selbsthilfegruppe „Wortblind“ einzutreten, und Enrico aus Dresden will seine Lerngruppe offiziell als Selbsthilfegruppe eintragen lassen. Wir gratulieren!
Ein wichtiges Thema war für alle Teilnehmenden auch die große Herzlichkeit und Verbundenheit, die während des Workshops untereinander entstand. Ana aus Hamburg fühlte sich „wie in einer großen Familie“ und Tina aus Berlin erklärte: „Ich bin so stolz auf euch alle!“ Zuletzt schloss Tim Henning, Projektleiter des ALFA-Mobils, mit den Worten: „Man hat ein Kribbeln in der Luft gemerkt. Nehmt diesen Elan mit, der hier entstanden ist! Wir sehen uns wieder.“
Webseiten der Selbsthilfegruppen:
Abc-Selbsthilfegruppe Oldenburg
Von Friederike Risse