Millionen Bürgerinnen und Bürger benötigen Alternativen zu Apps und Internetkäufen
Zum 1. Mai 2023 wird das Deutschlandticket eingeführt, mit dem der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) bundesweit für zunächst 49 Euro im Monat genutzt werden kann. Das Ticket ist, nur im Abo, digital auf zwei Wegen erhältlich: per App oder als Chipkarte. Kaufen kann man es bei allen Verkehrsunternehmen bundesweit. Dort ist teilweise auch für die Chipkarte eine digitale Bestellmöglichkeit vorgesehen; Ansprechpartner sind aber auch die DB-Reisezentren oder Kundenzentren von anderen Unternehmen. Die Bundesregierung schreibt, das digitale Ticket sei ein wichtiger Schritt für die weitere Digitalisierung des Sektors und böte die Chance, den ÖPNV „für die Menschen attraktiver und passgenauer“ zu gestalten.
Wir sagen: Die Digitalisierung im Verkehrssektor und das Angebot von Ticketkäufen per App sind für viele Menschen attraktiv und passgenau. Für viele andere Menschen sind sie aber kompliziert und unpassend. Denn Millionen Menschen in Deutschland sind unsicher im Umgang mit dem Lesen und Schreiben oder mit digitalen Anwendungen. Für sie muss die Möglichkeit bestehen bleiben, Tickets weiterhin im Umgang mit Menschen kaufen zu können. Wir begrüßen es, dass das Deutschlandticket auch vor Ort erworben werden kann.
Die Hamburger Studie „LEO 2018“ zeigt: Gering Literalisierte – also Menschen, die allenfalls bis zur Ebene einfacher Sätze lesen und schreiben können – nutzen den ÖPNV anteilig häufiger. 23,2 Prozent der Gesamtbevölkerung und 31,1 Prozent der gering Literalisierten nutzen den ÖPNV mindestens einmal pro Woche. Unter den Menschen, die die größten Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben (Alpha-Level 1), sind es 54,1 Prozent.
Die Studie zeigt auch, dass es starke Unterschiede gibt, wie Menschen Fahrkarten kaufen: Gering Literalisierte kaufen Tickets häufiger im Verkehrsmittel selbst und seltener am Fahrkartenautomaten oder über Apps als die Gesamtbevölkerung. Die Nutzung von Käufen am Schalter oder im Reisebüro ist ähnlich.[1]
„Für mich kommt das Ticket nicht in Frage, weil ich nichts ausfüllen möchte“, sagt Petra, die in Bielefeld als Erwachsene ihre Lese- und Schreibfähigkeiten verbessert. „Ich möchte einfach dahin gehen, und ein Monatsticket ohne Abo kaufen.“ Jessica, die im selben Kurs lernt, ergänzt: „Wenn man mit jemandem persönlich redet, kann man direkt fragen. Wenn ich vor dem Internet sitze, weiß ich manchmal nicht, was ich tun soll, oder ich traue mich nicht. Wenn man schon so Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat, wie soll man das schaffen, wenn noch etwas dazukommt? Ich würde das im Moment nicht können, mir ein Ticket im Internet zu kaufen.“
[1] Interessierte können hier im Kapitel „Geringe Literalität und Lebenssituation“ weiterlesen: Klaus Buddeberg, Anke Grotlüschen (Hrsg.) (2020): LEO 2018. Leben mit geringer Literalität. wbv.
Von: Julia Werner